Kinder

Mutterinstinkt meets Urschrei.

Marktsonntag in Starnberg. Ich laufe mit Töchterchen Liebreiz an der Hand durch die heute zumeist verkehrsberuhigte Stadt. Unser Ziel ist das Lager der “Stadtindianer” an der Nepomukwiese. Um dorthin zu gelangen, muss man die nicht für den Durchgangsverkehr gesperrte Kaiser-Wilhelm-Straße überqueren. Sie trifft rechtwinklig auf die Fußgängerzone, in der wir uns noch befinden.

Im Augenwinkel nehme ich jetzt hinten rechts auf dem Bürgersteig ein Mädchen wahr. Es rennt. Süß ist die Lütte, sicher nicht älter als drei Jahre, mit ihrem geblümten Kleidchen und dem hüftlangen Blondhaar. Ungebremst läuft sie auf die ungesperrte Straße zu, eine Betreuungsperson ist nicht in Sicht. Weiter vorne, am Bürgersteigrand, steht allerdings ein junger Mann; das wird wohl der Papa sein. Doch auch er reagiert zunächst nicht, als die Kleine sich nähert.

Das ist der Moment, wo in meinem Kopf alles auf “Alarm!” schaltet. Das fremde Kind. Die Straße. Die Autos. Keiner wird sie aufhalten. Und ich bin viel zu weit weg, um hinzusprinten. Also mache ich einfach den Mund auf und brülle wie eine Geistesgestörte “STOOOOPPPP!” in der Hoffnung, dass das Kind wenigstens erschrickt. Die Leute drehen sich zu mir um. Sie halten mich für bescheuert und tuscheln, weil sie ja nicht sehen, was ich sehe. Meine Tochter zuckt gehörig zusammen. Das war richtig laut! Der Mann am Fahrbahnrand, endlich, reagiert jetzt und stellt sich schnell breitbeinig in den Weg. Doch mein Überschall-Schrei hat schon Wirkung gezeigt – die Kleine stolpert erschrocken, bleibt stehen, schaut, woher das kam. Eineinhalb Meter vor ihr, genau da, wo sie genau jetzt eigentlich wäre, rasen mit Tempo 60 zwei Autos vorbei. Man sieht sie ja nicht kommen, überall wird geparkt.

Mein Herz fängt langsam wieder an zu schlagen. Gottseidank, gottseidank. Der junge Mann am Fahrbahnrand schaut hinter sich, sieht und hört die Autos, schaut vor sich, sieht das Kind, schaut zur Seite, sieht mich, die da so gebrüllt hat. Langsam beugt er sich zu dem zitternden Kind hinunter, ich bin schon da. Vorsichtig berühre ich einen kleinen, warmen Arm und versuche das Mädchen zu beruhigen. Die Leute um uns herum sind ebenfalls stehen geblieben und schlagen die Hände vor den Mund. Uns allen ist klar, wie verdammt knapp das war. Wie verdammt schmal der Grat zwischen “gerade noch” und “zu spät” sein kann.

Das Kind spricht nicht. Entweder sitzt der Schock noch tief oder es ist einfach schüchtern. Ein Passant meint, er habe es gerade noch in dem Kindermodeladen weiter hinten in der Straße gesehen. Ich nehme eine winzige Hand in meine und rede während der paar Meter bis zum Laden pausenlos leise auf die Kleine ein. Töchterchen Liebreiz geht auf der anderen Seite, still, der junge Mann auch. Tatsächlich stellt sich heraus, dass das Mädchen zu der Ladenbesitzein gehört; es ist ihre Enkelin. Zur Mama wollte sie wohl, die nur mal eben ihr Auto holen ging. Als wir erzählen, was gerade fast passiert wäre, wird die Frau bleich wie die Wand, nimmt ihre Enkeltochter fest in den Arm und flüstert “Oh Gott, Lucia, bitte mach das nie, nie wieder. Lauf nie, nie wieder weg!” Mit tränenfeuchten Augen sieht sie zu mir auf und stammelt “Danke. Danke, danke. Sie geht sonst nie von mir weg.”

Ich nehme mein unversehrtes Zicklein und gehe. Eine große, heiße, überwältigende Dankbarkeit für sie und ihren Bruder erfüllt mich. Der Kloß im Hals begleitet mich seitdem und erinnert mich bei jedem Schlucken daran, welch unfassbares, gar nicht selbstverständliches Glück gesunde Kinder bedeuten.

3 Comments

  • Franky

    Schön, das es ein gutes Ende genommen hat. Der Omi wird es eine Lehre sein. Sie wird in der Zukunft hoffentlich ein wenig besser aufpassen.
    🙂

  • der stilpirat

    Wenn man selber Kinder hat, ist das Gespür für solche Situationen viel größer. Seitdem ich Kinder hab scanne ich alles um sie permanent ab…

  • lbpirat

    gesunde/unverletzte kinder sind mehr wert als alles andere.
    ich kann mir noch vorstellen was wäre, wenn mir so etwas passieren würde.

    vielen dank für die schnelle reaktion.

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